ICH selber



Traditionell-metaphysisch heißt der Terminus „ich selbst“ und bezeichnet Geistiges. Der eigene Körper zeigt sich aus dieser Perspektive als ein Additivimum bzw. Anhängsel. Vielleicht so etwas wie ein Mail-Anhang, den man erst hochladen muss, um ihn zu präsentieren.

„ICH selber“ ist die Bezeichnung für eine körperliche Einheit Mensch, für die Geistiges nicht fassbar ist. Dieses ICH hat selber keine Ahnung, was das bei ihm sein soll, was andere Geist oder das Denken oder die Vernunft usw. nennen. ICH denkt, ist die weitestgehendste Aussage zu der es stehen kann, weil es in dieser Operation ‚denken‘ sich offensichtlich befindet, wenn es sich selber als nachdenklich empfindet oder andere fragen: „Na, was denkst du?“ Dieses ‚empfinden‘, ‚fragen‘ und ‚zuschreiben‘ („Kinder seid still, Mama denkt!“) sind hilfreich: Sie operationalisieren ein Tun, von dem ICH selber erst durch sprechen etwas sagen kann. Eigentlich leicht zu kapieren: Wie anders soll es sagen können, was es denkt, als durch ’sprechen‘?
Im Gegenteil dazu meinen Philosophen des Geistes und andere Metaphysiker, dass sie das Denken ohne zu sprechen in den Blick kriegen können. Sozusagen das Denken an sich. Denn sie reden ungeniert von „Bewusstsein“ und gehen davon aus, dass es gelingen könnte, ein physisches Korrelat dazu zu finden – obwohl nicht viel dafür spricht.

ICH selber kam ins Stolpern über dieses „Rätselraten“. Ein Reflexionsphänomenologe „metaphysizierte“ über Reflexionsphänomene seines Denkens, die Ausblicke auf Vergangenes ermöglichten und ontologisch-gnoseologische Grundstrukturen von Freiheit und Zeit beweisen  sollten. Da diese aber völlig geistiger Art waren, vermisste ICH selber nicht nur das Konkrete des ’sensorieren‘, sondern auch jede Art geistiges Vermögen diese zu erfassen. Das nachdenkliche ICH selber hielt sich schließlich für unfähig dergleichen zu kapieren und flüsterte leise: Und wenn das alles nur Theorie ist? (Was bei ihm so viel wie ‚ausgedacht‘ meint! Über ‚ausgedachtes‘ zu ‚philosophieren‘, hielt es aber immer schon für ein bisschen unphilosophisch.) Ein Ander-ICH, das gerade in der Nähe war, rief: „Natürlich ist das alles Theorie!“ Erleichtert schlug ICH selber sich an den Kopf und meinte: „Oh je, ist ICH selber saublöd, dass es nicht gemerkt hat, wie blöd es war, Reflexionsphänomenologie für was Konkretes zu halten!“ ICH selber gefällt es manchmal indirekt Karl Valentin zu zitieren. An diesem Ander-ICH findet es die unverblümte, treffende  Schlichtheit so angenehm.

Wie angenehm doch ‚leben‘ und ‚philosophieren‘ sind, wenn ICH selber Geistiges einfach geistig sein lassen kann, d.h. so viel wie: ‚unbekanntes‘ unbekannt sein lassen und sich bekannten Dingen zuwenden kann, bzw. solchen Dingen, die es kennen lernen kann.

‚Vernunft des Koerpers‘



‚Koerpervernunft‘ verwende ich als Sammelbezeichnung. Diese umfasst Vorgaenge, Taetigkeiten und Ergebnisse von

  1. ’sensorieren‘, wenn Menschen eine entsprechende Koerperhaltung einnehmen, die andere Menschen mit ’nachdenken‘ verbinden. (z.B. Rodins Skulptur vom „Denker“ oder die bekannte Darstellung Walters von der Vogelweide: „Ich sass auf einem Steine …“)
  2. ‚empfinden‘, ‚erinnern‘ und ‚vorstellen‘ (um Probleme zu loesen)
  3. momentanen bewussten und unbewussten sensorischen Leistungen im Zusammenwirken aller koerperlichen Funktionen.

Koerpervernunft ist individuell gepraegt durch ‚erleben‘

Diese drei physistischen Aspekte markieren ausserdem den unhintergehbaren, sich kontinuierlich veraendernden individuellen Rahmen, in dem fuer jeden Menschen verschieden, das geschieht, was ‚Koerpervernunft‘ umfassend bezeichnet. ’sensorieren‘ beziehe ich auf das, was ein ganz bestimmter Mensch auf die ihm eigene Weise wahrnimmt. Der Focus seines jeweiligen ’nachdenken‘ hinge so von der Bandbreite seines ’sensorieren‘ bzw. ‚wahrnehmen‘ ab. Daraus koennte man weiter folgern: Was ein Menschen nicht merkt, duerfte nicht Gegenstand seines ’nachdenken‘ sein koennen. Ferner duerften ‚empfinden‘, ‚erinnern‘ und ‚vorstellen‘ waehrend ein Mensch fuer seine Probleme Loesungen finden moechte, nur auf das zugreifen koennen, was als Folge seines ‚erleben‘ den neurophysiologischen Aktivitaeten seines Koerpers greifbar ist. Letztere duerften jeweils zu einem Ergebnis fuehren, das einer momentanen Leistung seines Koerpers entspricht. Dieses muendet wiederum modifizierend mit ein in seine ‚Koerpervernunft‘.

Koerpervernunft heißt: ’nachdenken‘, ‚überlegen‘, ‚zusammenfassen‘, ’schlussfolgern‘

zu 1: ‚ueberlegen‘ bzw. ’nachdenken‘ gehoeren nach meinem Kenntnisstand zu den etymologisch aeltesten Operationalisierungen von Vernunft. Dazu passt auch ‚vernehmen‘ (vor Gericht) i.S.v. ‚etwas knapp zusammenfassen‘ und ’schlussfolgern‘. Unverzichtbar fuer die je eigene ‚Koerpervernunft‘ ist die Anregung durch und der Bezug auf ’sensorieren‘. Ob und wie Taetigkeiten wie ‚ueberlegen‘ bzw. ’nachdenken‘ fuer ‚Geistiges‘ stehen, ist dabei fuer den gemeinsamen philosophischen Diskurs und gemeinsames ‚handeln‘ irrelevant.

Weitere Leistungen der Koerpervernunft: ’sensorieren‘, ‚verarbeiten‘, ‚empfinden‘, ‚erinnern‘ und ‚vorstellen‘

zu 2: ’sensorieren‘ umfasst aus meiner Sicht ‚wahrnehmen‘ und ‚verarbeiten‘ peripherer und innerer Anregungen, die vermutlich dem ’nachdenken‘ und ‚ueberlegen‘ dazu individuell Verfuegbares durch ‚empfinden‘, ‚erinnern‘ und ‚vorstellen‘ ueberlassen duerften. Dieses vermutlich hoch komplexe Geschehen der menschlichen Koerpervernunft entzieht sich unserer Beobachtung. Wir sind dabei auf ‚empfinden‘ verwiesen. Rolf Reinhold hat die dazu entsprechende Taetigkeit ‚denken‘ 1974 als ‚Simulation von Organlagen‘ naeher charakterisiert.

Lebenslange Projekte der Freiheit und Verantwortung: ‚entscheiden‘, ’sich einstellen‘, ‚optimieren‘

zu 3: Die Neurowissenschaften stellen seit Jahrzehnten Forschungsergebnisse zur Verfuegung, aus denen Wissenschaftler Muster und Prinzipien schlussfolgern, die sowohl Philosophieprofis als auch den vielen Selberdenkern unter uns Vorstellungen darueber ermoeglichen koennen, wie wir uns ‚einstellen‘ koennen, um unser ‚handeln‘ zu optimieren. Die in unserer Kultur uebliche Vorstellung, wir koennten unser ‚handeln‘ durch absichtsvolles geistig-vernuenftiges Steuern erfolgreich lenken, scheint nicht zu den neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen zu passen. Scheinbar planvolles Vorgehen entpuppte sich bei experimentellen Settings immer wieder als nachgeschobene Legitimation einer bereits vorher physisch gefaellten Entscheidung.

Es müssen bisherige  Vernunft-Theorien veraendert werden, wenn ‚philosophieren‘  dem ‚handeln‘ dienen möchte.

Aus meiner Sicht wird voreilig geschlossen, dass damit die menschliche Freiheit und Verantwortung ausgehebelt werde. M.E. wird lediglich eine bestimmte Theorie der Freiheit und Verantwortung in Frage gestellt, die seit Jahrhunderten nur in den Koepfen funktionierte und dazu fuehrte, das Fehl- und Fehlerverhalten Menschen persoenlich stigmatisierten. ‚koerpervernuenftiges‘ ergibt bei genauem Hinsehen, dass ’nachdenken‘ und ’schlussfolgern‘ unserem ‚handeln‘ nachgeordnete Taetigkeiten sind. Diese ermoeglichen ‚handeln‘ zu reflektieren, eigene Sichten und Einstellungen zu entdecken, mich zu veraendern, handelnd Anderes zu erproben und weiter zu entwickeln. Ich veraendere mich, weil ich es moechte. Dies ist meine freie Entscheidung. ‚verantworten‘ fuer eigenes ‚handeln‘ hat – egal ob ‚entscheiden‘ frei oder gezwungenermassen geschieht – in jedem Fall jeder fuer sich zu vollziehen. Dies ist mein Resuemee aus meiner Umsetzung koerpervernuenftiger Sichten und Konzepte.

„Was auch immer Du tust, es ist jedes Mal Deine eigene Entscheidung, … ausnahmslos!“ (Rolf Reinhold)