Enkulturation des Menschlichen



Zuschreibungen persoenlicher Eigenschaften erlebt jeder von Geburt an. Eltern gehen vom Verhalten eines Babys aus und bezeichnen je nach dem den kleinen Menschen als still, temperamentvoll, nervig, interessiert, ruhig, antriebsarm, aufgeweckt, … etc. In der Regel duerften aus einer Mischung unterschiedlicher Zuschreibungen Vorstellungen vom Charakter und Anlagen eines Saeuglings entstehen. Diese Einschaetzungen wiederum duerften das Verhalten der Erwachsenen gegenueber dem Saeugling und im Gegenzug das Verhalten des Saeuglings beeinflussen. Daraus ergeben sich weitere Zuschreibungen, Verhaltensveraenderungen usw. was sich bis an unser Lebensende fortsetzen duerfte. Es scheint mir, dies ein lebenslang wirksames Grundprinzip jedes Kontaktes zwischen Menschen zu sein, das außerdem als Basis fuer die Enkulturation jedes Einzelnen fungieren duerfte.

An dieser Stelle moechte ich anmerken, dass das bisher Erlaeuterte aus meiner Sicht auch fuer Wissenschaftler gilt. Theorien erwachsener Experten kommen haeufig mit dem Gestus daher, als seien sie geschichtslos entstanden. Vor allem Metaphysiker behaupten seit Jahrhunderten ueber allgemeingueltige Erkenntnisse zu verfuegen, die fortschreitende menschliche Entwicklung ermoeglichten und ignorieren meist einvernehmlich die Moeglichkeit, dass Veraenderungen auch ganz anderen Parametern folgen koennen. Humes sensualistische Forschungen, mit denen ich mich hier beschaeftige, duerften dazu Hinweise geben koennen.

Im Zusammenhang mit kulturellen Selbstverstaendlichkeiten duerfte das eben beschriebene Grundprinzip dazu taugen, normales (genormtes) Verhalten hervorrufen koennen. Dies ist gesellschaftlich erwuenscht. Ich entschloss mich mit 15 Jahren Lehrerin zu werden. Die Schulen Baden-Wuerttembergs orientierten sich lehrplanmaeßig an christlich-evangelischen Werten. Letztere hatte jeder Lehrer mit seiner Person zu vertreten. Dies brachte mich in Konflikt mit meinen sich seit einiger Zeit abzeichnenden agnostischen Sichtweisen. Erwachsene, die im Unterschied zu mir anders dachten und glaeubige Christen waren, veranlassten mich, meine eigenen, jugendlichen Schlussfolgerungen zu verwerfen. Ich machte mich „gehorsam – und pflichtschuldig“ daran herauszufinden, was es mit Wahrheit, Gott … etc. auf sich haben koennte. aehnlich wie Richard Rorty nahm ich an, den ’sagenhaften Ort neutralen Bewertens‘ finden zu koennen, an dem sich alle Widerspruechlichkeiten aufloesen wuerden. Ich wollte eine ‚richtige‘ Lehrerin sein koennen. Dieser Wunsch hat sich fuer mich nicht erfuellt. Anstelle von Begruendungen fand ich unbegründete Behauptungen und Rechthaberei. Menschen, die sich wie ich mit (An)Fragen rumschlugen, traf ich selten.

Kulturen folgen Normen, die sie mit Klauen und Zaehnen verteidigen. Vermutlich auch deshalb, weil jeder Mensch mit seinem Herzblut an dem haengt, was ihm durch Erziehung und Sozialisation abverlangt wurde und wird. Es schmerzt mich noch heute stets ein wenig, wenn jemand Metaphysik kritisiert, auch wenn ich selber mit Metaphysik nichts mehr anfangen kann. Das, was ein Mensch sich unter Maßgabe bestimmter Normen im Kontakt mit fuer ihn wichtigen Menschen erworben hat, wird ihm wertvoll, unabhaengig davon, ob damit etwas pragmatisch auszurichten ist oder nicht. Die individuell gestaltete Gemeinschaft mit anderen – so mein Resuemee – ist in der Regel wichtiger und duerfte das Hinsehen auf die negativen Folgen von ‚anpassen‘ erschweren bzw. verhindern koennen.

ICH



Umfassende sinnliche d.h. sensorische Prozesse und Aktivitaeten, sowie deren neurophysiologische Ergebnisse (autoaktive neuronale Netzwerke) halten physistisch gepraegte Philosophen – wie ich – fuer die Basis von ‘denken’, ‘schlussfolgern’, ‘vorstellen’, ‘handeln‘ … usw. Die Koerperorientierung dieses ‚philosophieren‘ macht den alles entscheidenden Unterschied zu jeder anderen Philosophie (Metaphysik) aus. Sie gibt auszerdem philosophischen Bezeichnungen wie z.B. ‚Vernunft‘ eine voellig andere Bedeutung, wie ich im vorigen Artikel erlaeutert habe.

Das ‚Ich‘ im Mainstream der Philosophie

Die Bezeichnung „ich“ veraendert unter physistisch gepraegter Sichtweise ihre Bedeutung gleichfalls. Um die Fuelle von Bedeutungen von „Ich“ wenigstens innerhalb des Mainstreams der Philosophie einigermaszen zutreffend erlaeutern zu koennen, muesste ich eigentlich ein mehrbaendiges Werk verfassen. Ich beschraenke mich aber jetzt darauf, einige deutliche Hinweise auf Unterschiede zu geben, die sich mir aus Jahrzehnten des Studiums nahe legten und denen jeder nachspueren kann, um herauszufinden, was Philosophen meinen koennten, wenn sie nicht nur „ich“ benutzen, sondern das „Ich“ erklaeren.

Innerhalb des philosophischen Mainstreams wird das „Ich“ als ein immaterieller, geistiger Faktor – etwas unsichtbares macht etwas Konkretes -, das denkt und ‚handeln‘ lenkt (u.a. bei Descartes und Locke). Leibniz nennt es eine Monade (m.E. eine Art grenzwertiges Abstraktum von etwas) Bei Kant ist das „Ich“ – wie bei Hegel, Schelling und Fichte – etwas ‚idealreales‘ (fand ich in Rudolf Eisler’s Woerterbuch), das es gibt, das man irgendwie kennt, aber nicht erkennt. Alle zuletzt genannten Philosophen beschreiben unterschiedliche „Iche“, behaupten aber dennoch die Identitaet des „Ich“. Diesen Paradoxien moechte ich hier nicht weiter nachgehen. Wer mehr wissen moechte, dem empfehle ich das Studium der entsprechenden Quellen, bzw. wenigstens einen Blick in ein philosophisches Woerterbuch. Ueber kritische Stellungnahmen freue ich mich.

Das ‚Ich‘ als etwas Körperliches – eine marginale Sichtweise

Ein Jedermann-Philosoph duerfte auf die Frage: „Wer bin ich?“ bzw. „Wer bist Du?“ antworten koennen: Monika Wirthgen, 62 Jahre alt, ueberwiegend weiszes Haupthaar, 1,59 m grosz, Lehrerin, Schwaebin … Dass dies auch Philosophenprofis so sehen koennen, beweist u.a. Spinoza: Er identifiziert das „Ich“ mit ‚denken‘ und betrachtet ‚denken‘ als koerperliches Phaenomen. Auch Hume geht davon aus, dass „Ich“ sensorierbar ist: Das „Ich“ sei ein „Buendel koerperlicher Empfindungen“, meint er.

ICH = Einheit Körper

Die beiden letzteren erlauben mir eine professionelle Anknuepfung an meine Sichtweise und verleihen dieser so Glaubwuerdigkeit – etwas was heute immer noch gefragt ist. „Ich“ ist aus meiner Sicht – wie ‚Koerpervernunft‘ – ein Sammelbegriff (in den Augen von Metaphysikern ein nachvollziehbarer Fehlgriff). Er bezeichnet die Einheit aller koerperlichen Vorgaenge und ist gleichzeitig der Name dieser Einheit. Diese Beschreibung stammt von Rolf Reinhold. Ich konnte sie mir nur deshalb zu Eigen machen, weil ich herausfinden wollte, was bei mir handelnd besser funktioniert, wenn ich physistisch denke und handle. Hier noch einmal vollstaendig: „ICH ist die Einheit des Koerpers, samt aller koerperlichen Prozesse und neuronalen Aktivitaeten, und der Name der Einheit.“

Diese Einheit ICH lebt von ’sensorieren‘. ICH koennte auch ‚empfinden‘ sagen. Doch weil damit in unserer philosophischen Kultur automatisch auch „idealreales“ mit assoziiert wird, bleibe ICH bei ’sensorieren‘, um deutlich zu machen, dass ICH ausschlieszlich Koerperliches bezeichnet.